Urwald in Europa?

Mit “Urwald” verbinden viele Menschen eher Begriffe wie “Dschungel” oder “Amazonas”. Dass es auch in Europa noch bedeutende Urwälder gibt, überrascht daher viele. 

Vor 6000 Jahren war Europa von großen, wilden Wäldern bedeckt: Nadelwälder in den Höhen und im Norden, Buchenwälder im Flach- und Hügelland. Doch davon ist heute fast nichts mehr übrig: nur mehr wenige Tausendstel unserer heutigen Wälder entsprechen den artenreichen Urwäldern von einst. 

Was ist ein Urwald? 

Als Urwälder werden Waldökosysteme bezeichnet, die niemals durch menschliche Eingriffe verändert wurden. Urwälder haben seit ihrem Entstehen (nach der letzten Eiszeit) eine ununterbrochene, natürliche Entwicklung durchlaufen. Sie weisen heute eine ungebrochen große „Natürlichkeit“ auf. Urwälder sind ursprüngliche, standortgerechte Waldgesellschaften, die ohne das Zutun des Menschen entstanden sind und in denen natürliche Prozesse unbeeinflusst von menschlichen Nutzungen ablaufen. 

In ihnen kommen sämtliche Waldentwicklungsstadien wie Jungwuchs, Dickungs-, Alters- und Zusammenbruchsphase nebeneinander und miteinander verzahnt vor. Die Bäume sind daher unterschiedlich alt (manche leben hier schon seit mehr als 500 Jahren) und stehen nicht in Reih und Glied. Meist sind große Mengen an stehendem und liegendem Totholz zu finden. 

Der Artenreichtum ist enorm: Viele ”Urwald-Arten“ wie seltene Käfer, Vögel, Pilze, Flechten oder Bodenorganismen haben hier ihre letzten Überlebensinseln, weil sie in intensiv genutzten und “ausgeräumten” Wirtschaftswäldern weder Wohnorte noch Nahrung finden. 

SaveParadiseForests - Romania
Ucea Mare, Fagaras Gebirge

Urwälder als Lehrmeister

Urwälder sind das Ergebnis einer seit vielen Jahrmillionen andauernden Evolution und der Etablierung bewährter ökologischer Prozesse. Urwälder sind daher außerordentlich stabile Ökosysteme und können Störungen (wie etwa Stürme, Hitze und/ oder Trockenheit) weit besser überwinden als die oft wesentlich artenärmeren, uniformen und gleichaltrigen Wirtschaftswälder. Daher sind sie wichtige Forschungsobjekte und auch  Lehrmeister für die Forstwirtschaft. In Urwäldern können wir studieren, welche genialen Systeme die “Natur” entwickelt hat und wie die verschiedenen Arten mit Störungen umgehen. 

Verlorenes Paradies

In den letzten beiden Jahrtausenden wurden unsere Urwälder sukzessive gerodet, um Holz zu liefern oder um Platz für Felder, Wiesen und Siedlungen zu machen. Die letzten großen Urwaldflächen Mitteleuropas wurden in den vergangenen 300 Jahren systematisch beseitigt und durch “geordnete”, auf maximalen Holzertrag ausgerichtete Forste ersetzt. Dabei kamen Europa gewaltige Mengen an Biomasse und Artenreichtum abhanden.  

Unsere letzten Urwälder sind daher ein herausragendes Naturerbe Europas und von globaler Bedeutung. Es gibt ja kaum mehr welche. Daher ist ihr besserer Schutz dringend notwendig! 

Naturnahe Wälder,  die vor längerer Zeit von Menschen genutzt wurden und sich seitdem wieder natürlich entwickeln konnten, werden als „Naturwälder“ bezeichnet. 

Naturwälder sind in Europa häufiger zu finden als echte Urwälder.  Auch sie sind viel artenreicher als die meisten Wirtschaftsforste. Weil auch sie in Europa sehr selten geworden sind, brauchen auch unsere Naturwälder dringend mehr Schutz. 

Bioa Mica, Fagaras
Bioa Mica, Fagaras

Rumänien: Europas Urwald-Hotspot

Kein EU-Mitgliedsstaat hat so viel Urwald zu bieten wie Rumänien. Im Jahr 1907 verzeichnete das Buch der Statistik der rumänischen Staatsforste, dass nicht weniger als 709 840 Hektar (von insgesamt 908 000 Hektar) Staatsforst nicht bewirtschaftet wurden. Ähnlich sah es auch im Privat- und im Stadtwald aus. Besonders die Buchenwälder waren weitgehend unberührt, weil Buchenholz nicht mit Hilfe des Wassers aus dem Wald gebracht werden kann.

Doch dann begann der  Staat Holzschlägerungs- und Papierindustrie-Unternehmen zu unterstützen und intensive Abholzungen durch Investoren aus Italien, Österreich, Schweiz, Deutschland, Frankreich und Rumänien starteten. Anfangs wurden vor allem Eichenwälder im Flach- und Hügelland  sowie Fichtenwälder im Gebirge umgesägt. Die Buchen-Urwälder kamen danach dran.

Förster berichteten vor dem Zweiten Weltkrieg und zu Beginn der kommunistischen Ära von eindrucksvollen Urwäldern. Als der  kommunistische Staat 1950 alle Wälder  verstaatlichte, waren etliche Täler in den Südkarpaten noch immer völlig unzugänglich. Zwischen 1960 und 1980 investierte der Staat in ein Erschliessungs-Programm und die Urwälder schrumpften. 

Mit der Restitution der Staatswälder ging es großen Urwald-Flächen an den Kragen: In den letzten 10-15 Jahren kamen riesige Gebiete unter die Säge. In Rumänien kursieren Schätzungen, wonach die Hälfte der Restitutionen illegal erfolgte…

Doch noch immer finden sich Täler in den Südkarpaten, in die keine Strassen, ja nicht einmal markierte Wege führen: Die oberen Bereich von Ucea Mare, Boia Mica oder Arpaselu sind pure Wildnis. Und das muss auch so bleiben!  

  

Fagaras Natura 2000 Site, Romania - July 2016: Ancient forest and logging in the southern Carpathians.
Wilde Südkarpaten in Rumänien: Europas letzte, noch weglose Gebirgstäler.